von Felix Schmale [01.04.2024]
Wie wird Wirklichkeit im Fotojournalismus konstruiert bzw. welche Auffassung der Wirklichkeitskonstruktion liegt vor? Verschiedene Bildgenre tragen in sich, dass die Betrachtenden »vielmehr die vermeintliche Wirklichkeit hinter dem Bild« (Wortmann, 2004, S. 11)sehen und nicht das fotografische Medium mit all seinen Einschränkungen und Codes. Ein Grund dafür ist, dass der Wirklichkeitsanspruch bzw. das Versprechen stärker ist. Das Realitätsversprechen ist fotografischen Bildern inhärent und wird durch den Erscheinungskontext erzeugt bzw. bestärkt. Darüber hinaus ist die visuelle Dialektik entscheidend für das Abbilden der Wirklichkeit: »Erweckt wird der Anschein von Wirklichkeit sowohl durch die Inhalte als auch durch formale Mittel.« (Schneider et al., 2004, S. 8).
Im Fotojournalismus ist genau dies der Fall. Fotografie, die in der Presse veröffentlicht wird, erhält durch ihren Publikationskontext bereits eine Legitimation. So lässt sich Fotografie in diesem Kontext auch als Fenster beschreiben, das den Einblick in eine ('andere') Welt gibt beziehungsweise geben soll (vgl. Szarkowski, 1980, S. 11). Laut Szarkowski ist es nicht die Ambitionen der Fotograf:innen zu verstehen, sondern in einem explorativen Sinne, mithilfe der Fotografie die Welt zu erkunden (ebd.).
Fotojournalist:innen gelten als 'Augenzeugen', die unter zwei Bedingungen funktionieren (vgl. Newton, 1998, S. 4). Die Wirklichkeit um sie herum wird objektiv von ihnen wahrgenommen und sie haben jedes Recht, aber auch die Verantwortung, alles zu unternehmen, um ein Bild zu erstellen, das diese Wirklichkeit der Situation getreu abbildet (ebd.). Die Bilder der Fotojournalist:innen erwecken den Anschein oder die »photographic illusion« (Huxford, 2004, S. 5), welche die Rezipient:innen in den Moment und an den Ort der Aufnahme bringt.
Der im Fotojournalismus angewandte Begriff der Augenzeugenschaft, ist anders zu verstehen als der im Wortjournalismus. So beschreibt Isermann (2015, S. 117), dass professionelle journalistische Fotograf:innen in der Regel erst im Nachhinein einen Ort aufsuchen, da es quasi unmöglich ist, Ereignisse vorauszusehen, die ein 'passendes' Bild liefern. Damit ist gemeint, dass das Erzählen der Geschichte über Stellvertretende Motive passiert, als bei dem tatsächlichen Ereignis vor Ort gewesen zu sein (ebd.). Dabei ist in der Zeitlichkeit einen Unterschied zu erkennen. Bilder können immer nur das zeigen, was gerade in dem Moment passiert. Hingegen können Worte auch über Berichte von anderen involvierten Personen ein 'Bild' des Ereignisses konstruieren, diese aber streng genommen kein Augenzeugenbericht mehr ist.
Die Kamera wird zur Verifizierung von Ereignissen genutzt. Sie gilt als objektives Instrument, das ein Stück der Welt wahrheitsgetreu abbildet. Wie Bourdieu (1981, S. 86) bemerkt, wird die Fotografie als realistische und objektive Aufzeichnung der sichtbaren Welt angesehen, weil von Anfang an gesellschaftliche Gebrauchsweisen eingeschrieben wurden, die als realistisch und objektiv gelten. Es ist wichtig, die Gebrauchsweise und den Kontext, in dem Bilder erscheinen, zu berücksichtigen. Die kulturelle Kodierung des Mediums Fotografie kann dazu beitragen, Sachverhalte zu verifizieren. Fotografie wird nicht medienreflexiv betrachtet, sondern als 'Fenster' und damit als realistisches Abbild der Wirklichkeit, wie eingangs bereits erwähnt.
Trotz der vergangenen Jahre seit Bourdieus Gedanken sind diese Überlegungen noch immer hochaktuell und können problemlos auf die heutige Zeit angewendet werden. Die Anzahl der zirkulierenden fotografischen Bilder ist immens angestiegen. Zudem betrachten nicht nur alle Menschen heutzutage Bilder, sondern produzieren sie auch. Dabei ist nicht erkennbar, dass die Medienkompetenz und die kritisch-reflexive Betrachtung von Fotografien in der breiten Öffentlichkeit gleichermaßen zugenommen haben.
Das fotografische Bild befindet sich in seiner Gebrauchstradition in einem permanenten Wandel. Unscharfe journalistische Standards und die allgegenwärtige Skepsis der postmoderner (westlicher) Gesellschaft lassen weiteren Zweifel am Dokumentarischen entstehen (vgl. Steyerl, 2008, S. 12f). »Die dokumentarische Artikulation ist heute potenter denn je zuvor.« (ebd.). Die Wechselwirkung zwischen dokumentarischen Bildern und der Wirklichkeit sind stärker als in der Vergangenheit. So rufen Bilder (unabhängig von der Wahrhaftigkeit und des Ursprung) heute zu Krisen, Kriege oder auch politisch positiv konnotierte Reaktionen auf.
Der journalistische Bildermarkt hat sich stark verändert. Das Selbstverständnis der Fotojournalist:innen stammt zum größten Teil noch aus dem »goldenen Zeitalter der Massenillustrierten und Magazine der Zwischen- und Nachkriegszeit« (Greiff, 2022, S. 407). Heute ist diese absolute Deutungshoheit nicht mehr einzig den Fotojournalistinnen überlassen. Dazu kommt Material von Bildlieferant:innen, das nicht von journalistischer Natur ist, wie etwa 'Zivilist:innen'.
Fred Ritchin führt in seinem Vortrag anlässlich des Symposiums »image/con/text« ein, dass 'heute' ein Fotografieverständnis besteht, dass im 20. Jahrhundert zurückhängt (vgl. Ritchin, 2019). Es wird davon ausgegangen, dass einzelne Fotos von Ereignissen die Welt verändern könnten, wie es etwa die Fotos aus dem Vietnam-Krieg taten (ebd.).
Bei der Betrachtung von journalistischen Bildern und Bildern, die im journalistischen Kontext erscheinen, ist es sinnvoll zwischen der vorgelagerten Produktion und der folgenden Rezeption zu unterscheiden. Für den Rezipienten sind alle Zwischengewerke der Produktion unsichtbar. Es ist also nur ein fragmentarischer Ausschnitt eines Moments sichtbar. Der Weg von der Aufnahme bis zur Publikation sowie der Moment vor dem Foto bleiben unsichtbar.
Daher ist es grundsätzlich erforderlich, den Produzent:innen zu vertrauen, wenn es um die Wahrhaftigkeit von journalistischen Bildern geht. Die Fotograf:innen müssen sich ihrer Verantwortung bewusst sein und die (Foto)Redakteur:innen müssen im Umgang mit Bildmaterial geschult sein. Wenn man einen Schritt zurückgeht und auf den Begriff der »occupational ideology« (Deuze, 2005, S. 443) betrachtet, wird deutlich, dass das gesamte System nur durch die Glaubwürdigkeit der einzelnen Akteur:innen innerhalb des Journalismus und gegenüber dem System Journalismus selbst zusammengehalten wird.
Bourdieu, P. (Hrsg.). (1981). Eine illegitime Kunst: Die sozialen Gebrauchsweisen der Photographie. Europäische Verlagsanstalt.
Deuze, M. (2005). What is journalism?: Professional identity and ideology of journalists reconsidered. Journalism, 6(4), Article 4. https://doi.org/10.1177/1464884905056815
Greiff, S. (2022). Zwischen Fakt und Erfahrbarkeit – Erzählen an den kreativen Rändern des Fotojournalismus. In E. Grittmann & F. Koltermann (Hrsg.), Fotojournalismus im Umbruch: Hybrid, multimedial, prekär (S. 405–431). Herbert von Halem Verlag.
Huxford, D. J. (2004). Surveillance, Witnessing and Spectatorship: The News and the ‘War of Images’. 5.
Isermann, H. (2015). Digitale Augenzeugen: Entgrenzung, Funktionswandel und Glaubwürdigkeit im Bildjournalismus. Springer VS.
Newton, J. H. (1998). The burden of visual truth: The role of photojournalism in mediating reality. Visual Communication Quarterly,5(4), 4–9. https://doi.org/10.1080/15551399809363390
Ritchin, F. (2019). Image/Text – Image/Hypertext. Vortrag beim »image/con/text« Symposium an der Hochschule Hannover, 2019, Hannover. http://image-matters-discourse.de/symposium-image-con-text/videos/?lang=en
Schneider, S., Grebe, S., & Ruhrlandmuseum Essen (Hrsg.). (2004). Wirklich wahr! Realitätsversprechen von Fotografien ; [anlässlich der Ausstellung „Wirklich wahr! Realitätsversprechen von Fotografien“, Ruhrlandmuseum Essen, 6. Juni bis 26. September 2004]. Hatje Cantz [u.a.].
Steyerl, H. (2008). Die Farbe der Wahrheit: Dokumentarismen im Kunstfeld. Turia + Kant.
Szarkowski, J. (Hrsg.). (1980). Mirrors and windows: American photography since 1960 (3. print). Museum of Modern Art.
Wortmann, V. (2004). Die Magie der Oberfläche. Zum Wirklichkeitsversprechen der Fotografie. In S. Schneider, S. Grebe, & Ruhrlandmuseum Essen (Hrsg.), Wirklich wahr! Realitätsversprechen von Fotografien ; [anlässlich der Ausstellung „Wirklich wahr! Realitätsversprechen von Fotografien“, Ruhrlandmuseum Essen, 6. Juni bis 26. September 2004] (S. 11–21). Hatje Cantz [u.a.].
fotojournalismus.net – ISSN: 2943-324X – Impressum + Datenschutz