von Felix Schmale [14.03.2024]
Die Zeit um den Jahrhundertwechsel vom 19. auf das 20. Jahrhundert war in den USA von den Folgen der stetigen Industrialisierung geprägt. Diese führten dazu, dass die untere Schicht der Bevölkerung, insbesondere die Arbeiterklasse, in ärmlichen Verhältnissen lebte. Die Wohnverhältnisse waren schlecht und es bildeten sich segregierte Quartiere, in denen hauptsächlich Arbeiter:innen lebten. In diesen Quartieren herrschten unter anderem Armut, Obdachlosigkeit, Alkoholmissbrauch und eine hohe Kriminalität. Als Beispiel wird nachfolgenden New York angeführt.
Jacob August Riis (1849-1914) war ein dänischer Journalist und Fotograf. Er wird in breiten Teilen der Fotografie-Geschichte als der Erfinder der sozialdokumentarischen Fotoreportage rezipiert (Bauernschmitt & Ebert, 2015, S. 21; Gidal, 1972, S. 10). Geboren in der Stadt Ribe im südwestlichen Dänemark in kleinbäuerlichen Verhältnissen, absolvierte Riis zuerst eine Tischlerausbildung bis er schließlich 1870 in die Vereinigten Staaten von Amerika emigrierte (vgl. Loock, 2020). Anzunehmen ist, dass der Grund der Auswanderung die schlechten Lebensbindungen im ländlichen Dänemark war. In der Zeit um 1870 wanderten viele Tausende aus Skandinavien in die USA aus. Nach einigen Jahren in Armut arbeitet Riis als Reporter für verschiedene New Yorker Zeitungen, darunter die Tribune und der Evening Sun. Später veröffentlichte er Bücher, darunter solche mit Fotodokumentationen (ebd.).
Wells (2004) beschreibt Riis als den womöglich ersten amerikanische Dokumentarfotografen, dies widerspricht der Rezeption, dass Riis nicht in erster Linie als Fotograf zu rezipieren sei, da er erst zu einem späten Zeitpunkt in seiner Karriere als Journalist, die Fotografie entdeckte (vgl. Szarkowski, 1973, S. 48; Stein, 1983). Dazu kam, dass er die Fotografie als solche nicht als eine fotografische Kunst begriff, sondern ausschließlich als gutes Werkzeug um seine journalistischen Texte zu verifizieren (vgl. Szarkowski, 1973, S. 48). Um die 1880er Jahre war die Fotografie noch nicht im breiten Kanon der Gesellschaft angekommen. Ebenso waren dokumentar-fotografische Traditionen noch nicht etabliert (vgl. Wells, 2004, S. 77).
Für eine Zeit von mehr als 20 Jahre nach Riis Tod (1914) interessierte sich niemand für sein fotografisches Werk, trotz der Präsenz seiner Fotos in Artikeln über die Sozialarbeit, Geschichte der Hilfsarbeit und die »successful assimilition of immigrants.« (Stein, 1983, S. 9). 1947 entdeckte der Fotograf Alexander Alland die Originalnegative von Riis Fotos und fertigte hochwertige Abzüge an (vgl. Newhall, 1949, S. 171). Die Sammlung von Riis Arbeit in den New Yorker 'Elendsvierteln' umfasste etwa 400 Glasplattennegativen, von diesen aber nur 39 in seiner Publikation »How the other half lives« (1890) veröffentlicht wurden (vgl. Stumberger, 2007, S. 47). Die Abzüge Allands wurden etwas später durch das Museum der Stadt New York (Museum of the City of New York) gekauft (ebd.).
Die geringe Wertschätzung für die Fotografie lässt sich mit einem Blick in die Original-Ausgabe von »How the other half lives« (1890) erkennen. Die Bilder sind in einer schlechten Qualität abgedruckt. Laut der Bildunterschriften handelt es sich bei einem großen Teil um Holzstiche, die auf Riis' Fotografien basieren. Die Fotos machen nur einen kleinen Teil des gesamten Buchinhalts aus. Sie ergänzen andere Illustrationsformen wie Tabellen oder Häusergrundrisse und stehen in ihrer formalen Funktion gleichberechtigt neben ihnen. Der Text bildet den Schwerpunkt des Buches.
Weitere Personen beteiligten sich am Boom der Riis-Bilder und wollten von der Popularität Riis' profitieren, natürlich auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Nach 1940 erschienen verschiedene weitere Ausgaben von »How the other half lives«, teilweise auch in erweiterten Versionen. Dabei wurde außer Acht gelassen, dass Riis womöglich bei der Zusammenstellung seiner ursprünglichen Publikation eine bestimmte Intention hatte (vgl. Stein, 1983, S. 9), nämlich die Unterstützung seiner Agenda. Mehr dazu wird an späterer Stelle erläutert.
Robert Taft und Beaumont Newhall führten Riis in den Kanon der 'Meister' ein (Stein, 1983, S. 9). In ihren kunsthistorischen Ausführungen zur Geschichte der Fotografie, »Photography and the American Scene« (Taft) und »Photography: A short critical History« (Newhall) stellen sie, beide auf eine ähnliche Art, das scheinbare Kontinuum der Foto-Geschichte dar (ebd.). Ebenso war es nach Sally Stein nur eine Frage der Zeit, »[…] before Riis would be added to the pantheon of photogrpahic masters.« (Stein, 1983, S. 9). 1974 erschien eine Monografie über Riis Arbeit bei Aperture mit dem Titel »Jacob A. Riis: Photographer & Citizen« von bereits erwähnten Alexander Alland, mit einem Vorwort von Ansel Adams. Letztere hatte wenig zur Fotografie des Urbanen beizutragen. Dennoch legitimierte genau dies, die Aufnahme von Riis in den hohen Zirkel der Foto-Meister.
In den 1940er Jahren, als Riis in den fotohistorischen Kanon eingeführt wurde, begann in den USA auch die Zeit der großen dokumentarischen Projekte, wie zum Beispiel der FSA (1935). Nach Stein kann Jacob Riis als ein nicht unproblematischer Vertreter der sogenannten dokumentarischen Tradition in den USA bezeichnet werden (vgl. Stein, 1983). Die Problematik um Riis lässt sich grob in zwei Gruppen aufteilen. Es geht einerseits um die Methoden und Ziele des Autors und andererseits um die heutige Rezeption seines Werkes.
Riis nutzte für seine fotografischen Aufnahmen in den 'Elendsvierteln' New Yorks eine Glasplattenkamera und einen Blitz. Der Blitz verwendete Blitzpulver, welches von Adolf Miethe und Johannes Gaedicke in Deutschland erfunden wurde (vgl. Newhall, 1949, S. 171). Neben arrangierten Aufnahmen, bei denen er die Personen für das Foto in den Räumen in Szene setzte, war auch 'flash and run' (Newhall, 1949, S. 171; Stumberger, 2007, S. 43) eine seiner Herangehensweisen. Damit ist gemeint, dass er die Personen unwissentlich fotografiert hat. Teilweise hat er die Menschen auch im Schlaf fotografiert, erst durch den hellen Blitz des Fotografen wurde dies bemerkt. Darauf lässt sich auch zurückführen, dass die auf den Fotos abgebildeten Personen häufig erschreckt in die Kamera blicken. Die Räume, in denen fotografiert wurde, waren in der Regel sehr spärlich oder gar nicht beleuchtet. Nachdem er ausgelöst hatte, rannte er wieder weg.
Während seiner Touren durch die Quartiere war er stets bewaffnet, um sich vor der, in seinen Augen, 'gefährlichen Klasse' zu schützen (Stumberger, 2007, S. 42). Riis stand in engem Kontakt mit der lokalen Polizei und wurde oft von ihnen begleitet (ebd.). Sein Handeln war stark mit der lokalen Polizeiarbeit verbunden. Er kooperierte unter anderem mit dem Polizeichef Theodore Roosevelt, um bei der Aufklärung und Verfolgung von Straftaten mitzuwirken (vgl. Riis & Diner, 2010, S. 342). In der Überlieferung wird häufig auch von 'Expeditionen' gesprochen, wenn es darum geht, in den 'Elendsvierteln' zu fotografieren (vgl. Stumberger, 2007, S. 42).
Die Rezeption von Riis als 'Sozialreformer', der durch seine Fotografie große weltbewegende Reformen angestoßen haben soll, ist kritisch zu betrachten. Seine Verachtung von armen und nicht-weißen Menschen ist tief in seinem Handeln verankert. Sally Stein (1983) beschreibt, dass in Riis' Texten, die den größten Teil seines Werkes ausmachen, arme Menschen als Opfer ihrer selbst dargestellt werden und hauptsächlich auf ihre Defizite eingegangen wird (vgl. Stein, 1983, S. 14). In seinem fotografischen Werk reproduzierte Riis häufig stereotype Bilder von marginalisierten Gruppen (ebd.). Er glaubte, dass jede Form von sozialer Benachteiligung durch ausreichende Arbeit überwunden werden könne (vgl. Stumberger, 2007, S. 46). Er hat es geschafft, vom armen Immigranten zum Angehörigen der Mittelschicht zu werden (ebd.). Allerdings wurden grundlegende Überlegungen dazu ausgelassen, dass die Lebensumstände, die er fotografierte, ein systemisches Problem sind, das Ergebnis der Industrialisierung. Die Arbeiter verdienten gerade genug zum Überleben, während die gehobenen Schichten, die von der Industrialisierung profitierten, wohlhabend lebten. Zusätzlich wurden seine Bilder sowohl für die Veröffentlichung in der Presse als auch zur Aufklärung von Straftaten und zur Unterhaltung genutzt (vgl. Stein, 1983, S. 9). Riis präsentierte die Fotos in Laternenvorträgen (heute würde man wahrscheinlich von Dia-Shows sprechen) vor einem Publikum aus der Mittel- und Oberschicht. Dabei fügte er persönliche Anekdoten hinzu und erweiterte sie um Daten und Fakten, wie sie in »How the other half lives« zu finden sind. Der Unterton war stets, dass Maßnahmen ergriffen werden müssen, um zu verhindern, dass sich diese 'gefährliche Klasse' weiter ausbreitet (vgl. Stumberger, 2007, S. 176). Diese Vorträge hielt er nicht nur in New York, sondern in den gesamten Vereinigten Staaten (vgl. Stumberger, 2007, S. 44). Im Jahr 1902 hielt er innerhalb von vier Monaten etwa 70 Vorträge in verschiedenen Städten (ebd.).
Die gezeigten Aufnahmen wurden teilweise nachträglich von Hand koloriert und beschnitten (vgl. Stein, 1983, S. 9). Das Ziel war, die Bilder zur Unterstützung seiner Thesen zu verwenden und keinen Spielraum für andere Interpretationen zu lassen. Bei den Dokumentarist:innen der 1940er Jahre wäre dies aufgrund der sich etablierenden dokumentarischen Wertvorstellungen nicht zulässig gewesen. Allerdings wird dieser Teil der Geschichte in vielen Fällen einfach ausgeblendet (ebd.).
In der umfangreichen Literatur zum Fotojournalismus wird Jacob August Riis als einer der Pioniere und Wegbereiter des späteren Fotojournalismus rezipiert. Dabei werden die vorangegangenen Gedanken, die vor allem auf den Überlegungen von Abigail Solomon-Godeau und Sally Stein basieren, zu selten in den Kanon einbezogen (Solomon-Godeau, 2011; Stein, 1983). Die Orientierung an einem kunsthistorischen Vokabular, d.h. an 'großen Meistern' und vor allem an Bildern (d.h. Oberflächen). Überlegungen zu Komposition und Lichtführung, die eine vermeintliche Meisterhaftigkeit seines Bilder zu belegen ist, nicht zu finden. Allgemein wird außer Acht gelassen, dass es sich immer um eine soziale Interaktion im Spannungsfeld von berufsethischen Paradigmen, persönlichen Intentionen und menschlichen Individuen handelt. Publikationen, die auf diese Erzählung zur Ausbildung von Fotojournalist:innen zurückgreifen (z.B. Bauernschmitt & Ebert, 2015) werfen die Frage auf, wie sich ein Berufsstand konstituiert, der sich besonders auf die Seite von Minderheiten und Missständen in der Gesellschaft stellt. dennoch ist es wichtig, sich nicht nur an den Bildern, sondern auch an den Kontexten, insbesondere an den Entstehungskontexten zu orientieren.
Bauernschmitt, L., & Ebert, M. (2015). Handbuch des Fotojournalismus: Geschichte, Ausdrucksformen, Einsatzgebiete und Praxis(1. Auflage). dpunkt.verlag.
Gidal, T. (1972). Deutschland: -- Beginn des modernen Photojournalismus. Bucher.
Loock, K. (2020). Riis, Jacob August. In H. L. Arnold (Hrsg.), Kindlers Literatur Lexikon (KLL) (S. 1–1). J.B. Metzler. https://doi.org/10.1007/978-3-476-05728-0_18578-1
Newhall, B. (1949). The History of Photography from 1839 to Present Day. Museum of Modern Art.
Riis, J. A., & Diner, H. R. (2010). How the other half lives: Authoritative text, contexts, criticism. W.W. Norton & Co.
Solomon-Godeau, A. (2011). Wer spricht so? In Diskurse der Fotografie (1. Aufl., [Nachdr.], S. 53–74). Suhrkamp.
Stein, S. (1983). Making Connections with the Camera. Afterimage, 10(10), 9–16. https://doi.org/10.1525/aft.1983.10.10.9
Stumberger, R. (2007). Klassen-Bilder. Herbert von Halem.
Szarkowski, J. (Hrsg.). (1973). Looking at photographs: 100 pictures from the collection of the Museum of Modern Art. distributed by New York Graphic Society, Greenwich, Conn.
Wells, L. (Hrsg.). (2004). Photography: A critical introduction (3rd ed). Routledge.
Schmale, Felix. “Jacob A. Riis und die sozialdokumentarische Fotografie”.
In Fotojournalismus.net. Dortmund. https://fotojournalismus.net/riis/ (01. April 2024).
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